Inge-Lehmann-Medaille für Prof. Dr. Ulrich Christensen
Ulrich Christensen, Direktor am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung, erhält eine der höchsten Auszeichnungen der Amerikanischen Geophysikalischen Union.
Die Amerikanische Geophysikalische Union (AGU) hat Prof. Dr. Ulrich R. Christensen, Direktor am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung (MPS), gestern die Inge-Lehmann-Medaille verliehen. Mit der Auszeichnung würdigt die AGU die herausragenden Beiträge Christensens zum Verständnis der dynamischen Prozesse im Erdmantel und im Erdkern. Seine Arbeiten haben entscheidend zu einem detaillierten und realistischen Bild der Vorgänge im Erdkern beigetragen, die das Magnetfeld der Erde erzeugen. Viele seiner Erkenntnisse und Methoden konnte er zudem auf andere Planeten, Monde und ferne Sterne übertragen – und so zu neue Einsichten in die Magnetfelder dieser Körper gelangen.
Tief unter uns ist das Innere der Erde in Bewegung. Im Erdmantel etwa, der sich 660 bis 2900 Kilometer unterhalb der Erdoberfläche erstreckt, herrschen so hohe Temperaturen und Drücke, dass das Gestein verformbar wird. Angetrieben von Temperaturunterschieden zwischen der inneren und der äußeren Grenze des Erdmantels drängt das Gestein im Laufe von Millionen von Jahren aus dem Innern bis hoch zur Erdkruste – und umgekehrt.
Diese behäbigen Strömungen, die unter anderem für die Bewegungen der tektonischen Platten verantwortlich sind, waren zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn Forschungsgegenstand von Prof. Dr. Christensen. Wie auch in seiner späteren Karriere setzte er auf numerische Berechnungen, um die genauen Vorgänge im Innern zu simulieren und dadurch besser zu verstehen. So entstand etwa eine umfassende Theorie, welche die Strömungen im Erdmantel in Verbindung bringt mit der Verteilung von Isotopen, also Atomen derselben Art aber unterschiedlichen Gewichts, in den Magmen die aus dem Erdmantel bis an die Oberfläche aufsteigen.
Mitte der 90er Jahre verlagerte sich das Augenmerk Christensens weiter nach innen auf den äußeren Erdkern in einer Tiefe von 2900 bis 5100 Kilometern – und mit ihm auf die magnetischen Eigenschaften unseres Planeten. Wie der Erdmantel ist der äußere Kern Schauplatz gewaltiger Materialumwälzungen. Allerdings sind Eisen und Nickel, die Hauptbestandteile dieser Region, unter den dort herrschenden Temperaturen und Drücken flüssig und elektrisch leitend. Die Eisen-Nickel-Schmelze strömt deutlich schneller als der Erdmantel; die Drehung der Erde verwirbelt sie zusätzlich. Dadurch entstehen Magnetfelder. In einer Art Dynamoprozess verstärken sie sich selbst und erzeugen so das Magnetfeld der Erde, das bis weit in den Weltraum reicht und unseren Planeten vor geladenen Teilchen von der Sonne schützt.
Bei dem Versuch, diese Vorgänge am Computer zu simulieren, stoßen Forscherinnen und Forscher unweigerlich auf ein Problem: Die geringe Viskosität der Eisen-Nickel-Schmelze sorgt für ausgesprochen kleinteilige Strömungen, die sich mit heutiger Rechenleistung am Computer kaum darstellen lassen. Lassen sich bestimmte Eigenschaften der Gesamtsystems für die Berechnungen am Computer „künstlich“ so verändern, dass die grundlegenden physikalischen Prozesse erhalten bleiben, der Rechenaufwand jedoch auf ein handhabbares Maß reduziert wird? Unter anderem dieser Frage ist Christensen nachgegangen. Dabei untersuchte er umfassend, welche grundlegenden Eigenschaften des Erdkerns seine Strömungen - und mit ihnen das Magnetfeld - beeinflussen.
Überlegungen dieser Art machten es Christensen möglich, die Dynamotheorie der Erde auf weitere Planeten und Monde zu übertragen. Denn auch der Merkur, die Gasriesen Jupiter und Saturn sowie einige ihrer Monde hüllen sich in ein Magnetfeld. Deren Stärken sind jedoch sehr verschieden; das Magnetfeld des Jupiters etwa ist an seiner Oberfläche beispielsweise etwa tausendmal so stark wie das des Merkurs. Woran liegt das? Welche Eigenschaft, etwa Größe des Kerns, Rotationsgeschwindigkeit oder elektrische Leitfähigkeit, ist ausschlaggebend? In einer wegweisenden Arbeit konnte Christensen den Energiefluss im flüssigen Kern als entscheidende Größe identifizieren. Körper, die in ihrem Kern pro Zeiteinheit eine vergleichbare Energiemenge nach außen transportieren, weisen somit ähnliche Magnetfelder auf. In den vergangenen Jahren hat Christensen sein Augenmerk zum Teil noch weiter weg von der Erde gerichtet – etwa auf Sterne und ihre magnetischen Eigenheiten.
Nach einem Studium der Physik und anschließender Promotion an der Technischen Universität Braunschweig hat Prof. Dr. Ulrich Christensen 1985 an der Universität in Mainz im Fachbereich Geophysik habilitiert. Nach Forschungsaufenthalten in Mainz, Arizona und Utrecht wurde Christensen 1992 zum Professor für Geophysik an die Georg-August-Universität Göttingen berufen. Seit 2002 ist er Direktor am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung, wo er die Abteilung „Planeten und Kometen“ leitet. Zu seinen vielen Auszeichnungen gehört der Leibniz-Preis, die höchste Wissenschaftsauszeichnung in Deutschland, sowie die August Love Medaille der Europäischen Geowissenschaftlichen Vereinigung. Christensen ist Autor von mehr als 140 wissenschaftlichen Publikationen, die insgesamt mehr als 10.000-mal zitiert wurden.
Die Amerikanische Geophysikalische Union ist die weltweit größte Wissenschaftsorganisation im Bereich der Geophysik mit mehr als 60.000 Mitgliedern, von denen 40 Prozent außerhalb der USA ansässig sind. Mit der Inge-Lehmann-Medaille würdigt sie seit 1997 alle ein bis zwei Jahre eine herausragende Forscherpersönlichkeit, die entscheidende Beiträge zum Verständnis der Struktur, Dynamik und Zusammensetzung von Erdmantel und -kern geliefert hat. Die Auszeichnung ist benannt nach der dänischen Seismologin und Geophysikerin Inge Lehmann, die 1936 entdeckte, dass der Erdkern nicht komplett flüssig ist, sondern ganz im Innern aus festem Eisen besteht.